Pietà, Ulmer Meister um 1430
Terrakotta, Rückseite gehöhlt, übergangene Farb- und Goldfassung. Leicht best., Fassung berieben, min rest., H. 69 cm.
In breiter Frontalität angelegt zeigt die Figurengruppe Maria mit aufgerichtetem Oberkörper, ihr Haupt ist leicht nach rechts geneigt, der Blick ihres jugendlichen Gesichtes ruht auf dem Antlitz Christi. Mit ihrer Rechten hält sie ihren toten Sohn stützend unter seinem Kopf und umfasst mit ihrer linken Hand seinen rechten Arm, während seine Linke überkreuzend auf ihrer Linken ruht und damit die innige Verbindung unterstreicht. Die hier besprochene Pietà steht in der Reihe der Pietà-Figurengruppen oder Vesperbilder, bei der Maria mit beiden Händen ihren Sohn hält im Unterschied zum Typus der Pietà, bei dem Maria ihre Linke zur Verdeutlichung der Trauer vor ihrer Brust hält.
Die Bezeichnung Pietà kommt aus dem Italienischen und steht für Mitleid, das Mitleid der Gottesmutter für ihren Sohn. Gleichzeitig soll von der Figurengruppe der Maria mit ihrem toten Sohn im christlichen Sinne das Mitleiden (pietà) auf den Betrachter überspringen, hervorgerufen durch die formale Sprache des Künstlers. Häufig findet sich aber auch der Begriff Vesperbild synonym für Pietà. „Vesper“ geht auf die lateinische Bedeutung vespera (Abend) zurück. Am Karfreitag-Abend wurde Christus vom Kreuz abgenommen und von der Gottesmutter in die Arme genommen. Daraus entwickelte sich in der kunsthistorischen Motivgeschichte das „Vesper- oder Abendbild des Karfreitages“. In der christlichen Abendandacht, der Vesper, wird angesichts der Pietà, des Versperbildes der Kreuzabnahme Christi gedacht.
Unsere Pietà des Ulmer Meisters prägt außerdem in kompositorischer Hinsicht die horizontale Linie des liegenden Christuskörpers, die, ausgehend von seinem Haupt und sich fortsetzend bis zu seinen Knien zusammen mit der senkrechten Linie in der aufrechten Sitzhaltung der Gottesmutter eine Kreuzform ergibt. Auffälligerweise ist das Christushaupt aus der Körperachse heraus in Richtung auf den Betrachter gewendet, der Mund ist leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Das Gesicht der Gottesmutter wirkt zart unter dem schweren Stoff, der ihr Haupt rahmend in symmetrischen Röhrenfalten umschließt und ohne Zäsur in breiten, gebündelten Faltenkaskaden auf den Sockel gleitet. Ein Kontrast ergibt sich durch die üppigen Stoffbahnen und die nackte, anatomische Körperlichkeit des Gottessohnes. Die realitätsnahe Gestaltung der Figurengruppe und der physiognomische Ausdruck Mariens zeugt von der Entstehungszeit in der Epoche der Frührenaissance, die in Abkehr von der Gotik von einem neuen Wirklichkeitssinn geprägt war und in der das Studium der Natur in den Vordergrund rückte.
Die hier angebotene Pietà steht im Kontext zu drei weiteren, nahezu identischen Pietà-Figurengruppen: die sog. „Steinberger Pietà im Liebieghaus in Frankfurt/Main, benannt nach ihrer Herkunft aus Steinberg bei Ulm, ehemals Sammlung Fuld, die Zweite in Dorndorf und die Dritte in Öttingen.
Im Katalogtext zur „Steinberger Pietà (Nr. 57) des Liebieghaus-Kataloges von 1966 wird darauf hingewiesen, dass vermutlich alle drei Ausformungen in Terrakotta im Zeitraum von 1410-1430 aus derselben Form entstanden sind.
Aufgeführt im Auktionskatalog Sotheby´s London, Dez. 1996, Lot 38, dort auch eine nicht mehr vorhandene Thermoluminiszenz-Analyse erwähnt; süddeutscher Privatbesitz.
Limitpreis: 12.000 €
12. April 2025 um 10:00
Literatur:
Zur „Steinberger Pietà“: Museumskatalog „Gotische Bildwerke“, Liebieghaus, Frankfurt/Main 1966, Kat.-Nr. 57 und Ausstellungskatalog Liebieghaus, „Eindeutig bis zweifelhaft, Skulpturen und ihre Geschichten“, Frankfurt/Main; W. Pinder, Die deutsche Plastik des 15. Jahrhunderts, München 1924, Tafel 9 (Steinberger Pietà).